Dirk(-Uwe) Becker - Prosa I
Traumsequenzen
Das Rattern der Räder schneidet meine Träume in leicht flüchtige Streifen. Meistens gelingt es mir, sie aneinander zu knüpfen und die Handlung nicht zu verlieren. Manchmal aber entwischt der eine oder andere Strang. Dann muss ich mich beeilen, all' jenes, was ich noch behalten habe mit dem, was nun folgen wird, in einen vernünftigen Zusammenhang zu stellen. Sofern man bei Träumen überhaupt von Zusammenhang, geschweige denn von vernünftig reden kann. Es wäre müßig, sich alles merken zu wollen. Zu verschroben, zu sehr verschachtelt. Der Anfang passt meistens nie zum Ende und mittendrin, ja, da stolperte man von Realität zu Realität. Der Zug hält. Mein Kopf schlägt leicht nach vorn. Ich öffne die Augen. Dammtor. Gut. Hier will ich aussteigen, eigentlich. Meine Beine scheinen mit dem Metall des Bodens verwachsen zu sein. Ich komme nicht hoch. Der Zug fährt wieder an. Räderkreischen, Helligkeit schießt zurück in die Dunkelheit, die Gesichter wirken wie bei einer Fleischtheke im Supermarkt unnatürlich fahl. Die Frau mir gegenüber hat wundervoll geformte, schlanke Beine. Darauf hockt ein kleiner Junge, spielt mit seinem Nintendo. Das wird sich ändern, in spätestens zehn Jahren, denke ich. Dann lässt du den Nintendo fallen und greifst zwischen die Schenkel. Kein anonymes Plastik. Lebendiges, warmes Fleisch. Erregend warm. Sehnsüchtig zitternd. Der alte Mann stand schon an der letzten Haltestelle dort mitten im Abteil. Niemand, der ihm seinen Platz anbietet. Meiner geht nicht. Die Beine sind ja mit dem Boden verwachsen. Schade, hätte ich sonst gemacht. Er hält sich mühsam an einer Halteschlaufe fest. Abgeriebener Kunststoff, die Kanten schon brüchig, so wie die Haut des Mannes, gegerbt, vom Leben, gefurcht von den Erinnerungen, die ihre Samen in die Poren gepflanzt hatten. Wenn es jetzt regnen würde, metaphysisch, versteht sich, würde alles aus ihm heraus schießen. Wie würde er dann aussehen. Blumenwiese, karge Savanne, Orchideen prangender Urwald, Moorlandschaft, schroffe Berggrate? Die Erdanziehung macht ihm zu schaffen. Er knickt ein. Wird von einem jüngeren Mann gestützt. Wahrscheinlich Student. Trägt eine Collegemappe unter dem Arm. Bewerbung oder Vorlesungsskript? So krampfhaft, wie er daran festhält, wahrscheinlich Bewerbung. Er lässt sie fallen, um dem alten Mann zu helfen. Bückt sich und sammelt die Werbeblätter wieder ein. Armes Schwein, denke ich. Musst für dreißig Euro dreißigtausend Blätter in Briefkästen werfen. Hochhaussiedlungen bevorzugt. Einfamilienhäuser sind ein Gräuel. Vielleicht auch alles in einem Rutsch in den nächsten größeren Abfalleimer. Wenn es keiner sieht und der Werbeleiter nicht weiß? Kann gut gehen. Oder auch nicht. Dann doch wieder Bewerbungen in die Mappe. Ist letztlich aber so was von egal. Dreißigtausend Bewerbungen sind so gut wie dreißigtausend Werbeblätter. Wer liest so etwas denn heute noch? Das Rattern der Räder schneidet dem alten Mann die Zeit aus dem Gesicht und fügte sie mit der Werbemappe des Jüngeren zu einem Vorstandsschreibtisch zusammen, hinter dem eine Frau mit aufregend langen Beinen sitzt und ihr Kind beobachtet, das auf einem Fenstersims im elften Stock eines Bürohochhauses mit seinem Nintendo spielt. Ein Windhauch kommt auf, lässt es wie ein Blatt in der Abenddämmerung durch die Häuserschluchten segeln. Der offene Mund der Mutter entgleitet der Sicht wie ein roter Ballon, der in der Ferne immer kleiner wird. Auf dem Schreibtisch stapeln sich tausende von Bewerbungsunterlagen. Ein alter Mann, seitlich auf einem niedrigen Schemel hockend, faltet daraus Papierflieger und entlässt diese dem Nintendo-Kid hinterher hinaus in die Neonschluchten. Die junge Frau rollt einen Stapel Werbeblätter zu einer Art dicker Zigarre, schiebt diese unter ihren kurzen Rock, lehnte sich im Sessel zurück und ahmt das Lächeln der Mona Lisa nach, bis ihr Kopf plötzlich nach vorne ruckt, auf der Tischkante aufschlägt. Der Zug hält. Mein Kopf war mit einer der Haltestangen kollidiert. Gänsemarkt. Ich stelle mir diese unterirdische Halle mit tausenden schnatternder Gänse vor. Alle in Highheels und mit langen schlanken Schenkeln in schwarzen Netzstrümpfen. Eine davon zu Sankt Martin auf einer silbernen Schale mitten auf dem Gabentisch, mit Papierrosetten um die Fesseln. Klar, ich habe immer die Brust genommen, schon als Kind, weil da am meisten dran war. Der Zug ruckt an. Die Türen schließen pneumatisch. Ein Geräusch, als ob man Luft aus einem Ballon entweichen lässt. Was ist aus dem kleinen Jungen geworden, dessen Mutter einen roten Ballonmund hatte? Fahrscheinkontrolle. War nicht zu erkennen gewesen. Die werden auch immer raffinierter. Tarnen sich jetzt als Penner, Büroangestellte, Hausfrauen, Studenten. Die wundervoll geformten schlanken Beine gehören einer Hartz-IV-Empfängerin. Kein Ticket. Sechzig Euro. So viel kostet es auch in der Herbertstrasse. Soll ich fragen, ob ...? Nein, das wäre wirklich zu plump. Lasse das Portemonnaie wieder in die Hosentasche sinken. Der schwächliche Alte gehört auch zu den Kontrolleuren. So was! Nimmt dem jungen Mann, der ihm vorhin wieder auf die Beine half, ebenfalls sechzig Euro ab. Student. Dachte ich mir. Kein Job. Kein Geld. Werbezettel statt Speisekarte im Steigenberger. Der hilft niemandem mehr. Lässt künftig die Alten eher verrecken als auch noch das Essensgeld für die warme Suppe in der Bahnhofsmission zu riskieren. Verständlich. Durch einen dampfenden Dschungel flattern Fahrscheine. Auf ihnen langbeinige Sozialhilfeempfängerinnen im Schneidersitz. Aus der Höhe stürzt an einer Liane ein grauhaariger Kontrolleur herab. Seine Rabennase piekt sich ein Blatt heraus. Kontrolle. Dschungelpatrouille. Wo sind die Elephanten?! Kamen wahrscheinlich nicht durch die Sperre oder hatten noch nie einen HVV-Fahrscheinautomaten bedient. Der Kontrolleur rollt mit den Augen, weil die junge Frau ihren Rock hebt, zeigen will, was sie hat, nämlich nichts - an und bei sich. Kurz vor Erreichen der Höchstdrehzahl lösen sich die Augen und schießen wie zwei Kugelblitze durch den Wald, kollidieren mit den Bäumen, prallen ab. Bandenspiel. Links. Rechts. Aus! An seiner Stelle hätte ich aber eher die schwarze Acht vor der weißen Kugel ins Loch befördert. Pech. Spiel verloren. Man erklärt mich zum Sieger und schüttelt mir die Hand. Sehr unsanft. Das Rütteln an der Schulter nimmt zu. Fahrschein bitte! Vor mir der alte Mann. Hat seine Augen wieder aus dem Pool gefischt. Lächelt. Wahnsinn. Ich greife in die Tasche. Zeige meine Karte. Darf weiterfahren. Will aber nicht, weil sich gerade in dem Moment meine Füße vom Boden lösen. Ich stolpere zur Tür. Christuskirche. Fein. Ich weiß zwar nicht, was du hier unten machst, mein Sohn, aber vielleicht kümmerst du dich bitte mal um einige der Fahrgäste. Die haben das bitter nötig. Ich steige die Treppen empor. Tageslicht. Das Rauschen des Verkehrs ist wie Musik in meinen Ohren.
Erschienen 2008 in der Anthologie:
Unterwegs - 30 Autoren auf Reisen
Lerato-Verlag (ISBN: 978-3-938882-37-5 / 9,95 Euro)