Dirk(-Uwe) Becker - Prosa II

Im Garten

 

in den frühen zweigen
hänge ich kopfunter
lass mich fallen
in das unsichtbare netz
das meine mutter
nur aus worten spinnt
meine sehnsucht einzuhüllen
*)

 

Eisiger Wind pfeift durch die schmale Gasse. Kein schöner Tag zum Sterben, denkt er und setzt vorsichtig Schritt vor Schritt, wie damals, in seiner Jugend, als er beim Gang zur Schule nur jeden zweiten Pflasterstein betreten durfte, damit die Mathearbeit keine Fünf wurde. Der Garten liegt am Ende der Strasse. Eigentlich eine Schrebergartenkolonie. Aber für ihn war es stets ‚der Garten'. Hinter dem Geräteschuppen, den sein Vater vom Vorbesitzer kostenlos übernehmen konnte, hatte er sich mit seinen Freunden aus Abfallholz, Kisten und Jutesäcken ein eigenes Reich geschaffen, seine ‚Burg'. Direkt am Eingang erhob sich ein alter knorriger Baum mit tief hängenden Ästen, tief genug, dass sie sich daran hochziehen und bis in die Krone klettern konnten. Das war ihr Ausguck. Sie hielten nach allem Möglichen Ausschau - dem Wetter, reifen Früchten in den Nachbargärten, anstehenden Klassenarbeiten oder ‚Feinden' - das waren die Kinder der reicheren Bewohner, die immer in eleganter Kleidung zur Schule kamen, mit den Mädchen ausgehen und denen das Eis bezahlen konnten. Wenn sich einer von dieser Sorte irgendwo in der Nähe blicken ließ, dann gab es ein lautloses Signal und ihr Kinderfeldzug begann. Arm gegen Reich. Das war lange her.

Vor dem Tor hält er kurz inne. Rost schmückt in verschieden großen Placken den eisernen Rahmen. Der Garten ist verwildert. Wohl lange nicht mehr verpachtet, heruntergekommen wie so vieles hier in der Siedlung. Statt des Geräteschuppens befindet sich jetzt eine Hütte aus Fertigbeton dort. Die Fensterhöhlungen sind leer, aus dem türlosen Eingang wachsen Büsche. Eine Ruine. Auch die ‚Burg' steht nicht mehr. Autoreifen stapeln sich an ihrem Platz. Nur der alte Baum, der ist noch da. Etwas dicker und knorriger ist er geworden. Aber unverwechselbar der alte. Fast wie im Traum geht er über das verwilderte Grundstück, umfasst den Stamm mit seinen Armen und blickt in die Höhe. Erinnerungen an frühe Tage segeln wie Herbstlaub aus der lichten Krone auf ihn herab. Er versucht, diese Gedanken abzuschütteln. Es will nicht gelingen.

Sein Vater wollte damals den Baum fällen. Nehme zuviel Licht und dem Boden zu viel Wasser, sagte er. Seine Mutter hörte sich das an, sah die Tränen in den Augen ihres Sohnes und entschied, der Baum bleibe, wo er war. Man könne ihn in den Garten und die Anlage der Beete integrieren. Und außerdem hätte er so viele Jahre dort gestanden und niemanden gestört. Das werde sich auch in Zukunft nicht ändern. Nur über ihre Leiche. Mit seinen Freunden hatte er dann am Tag darauf ganz oben in der Krone des Baumes diesen Sieg gefeiert. Nun konnten sie weiterhin ihre Träume in die Äste spinnen, nach allem Möglichen Ausschau halten und vor allem - sie hatten eine neue Verbündete, seine Mutter. Wenn sie Zeit hatte und in den Garten kam, um seinem Vater zu helfen, brachte sie immer Leckereien mit, mal Äpfel, mal ein Stück Kuchen oder Lakritze, die sie unterwegs beim Kaufmann geholt hatte. Manchmal hing er kopfüber von einem dicken Ast, besah sich die Welt anders herum, versuchte zu verstehen, warum für Erwachse immer alles so kompliziert ist. Für seine Mutter war nichts kompliziert. Sie verstand ihn und er verstand sie. Abends, wenn sie ihm eine Geschichte vorlas oder vor dem Licht ausmachen noch ein kleines Liedchen sang, dann fühlte er sich aufgehoben, alle Last des Tages fiel von ihm ab, selbst die verhauene Mathearbeit war nicht mehr als beschriebenes Papier. Er fühlte sich durch ihre sanfte Stimme in einen wohligen Kokon gehüllt, der ihn durch seine Traumreise in der Nacht begleitete und beschützte, bis der neue Tag diese Hülle gewaltsam aufbrach und mit dem Rasseln des Weckers, Zähneputzen und Schulgang der Realität wieder zum Sieg verhalf.

Er greift nach dem untersten Ast, zieht sich hoch, lässt seine Beine baumeln, blickt über die Kolonie, nach Süden zu, wo die Sonne gerade hinter den Häuserschluchten untergeht. Was hätte seine Mutter wohl gesagt, wenn sie gewusst hätte, dass er seinen Traum wahr gemacht hat, auch ein ‚Reicher' geworden ist, einer, der aus der Unter- in die Oberstadt wechselte. Wahrscheinlich hätte sie ihn geohrfeigt. Obwohl - geschlagen wurde er zu Hause nie, nur von seinem Vater bekam er ab und zu mal deftige Worte zu hören, wenn die neue Hose zerrissen oder die Versetzung in der Schule gefährdet war. Aber das war auszuhalten gewesen. Im Zeichen seiner ‚Burg' hatte er gesiegt, war Versicherungsmakler geworden, bei der Nürnberger, jetzt im Vorstand. Sein Beruf führte ihn weit in der Welt herum. Seine Eltern sah er in jener Zeit kaum, ein paar Briefe mal, einige Telefonate. Nun hatte er den Anruf bekommen, von seinem Vater. Mutter läge im Sterben. Er nahm die nächst beste Maschine, von New York nach Hamburg. Aber die Zeit reichte nicht, obwohl er vor dem Flughafen nur jeden zweiten Pflasterstein betrat. Seine Mutter war bereits tot, als er zu Hause ankam. Unvermittelt lässt er seinen Tränen freien Lauf. Sie fallen auf die knorrige Rinde und in das hohe Gras. Hier darf er weinen, sich in Sentimentalität verlieren. Er sitzt nicht in einem vollklimatisierten Büro auf einer der Vorstandsetagen, sondern auf einem erinnerungslastigen Ast eines alten Baumes. Vielleicht hätte sie gelächelt und ihn scherzhaft an den Ohren gezogen, hätte er ihr noch erzählen können, dass er vor wenigen Tagen jenes Schrebergartengrundstück von der Stadt gekauft hat, damit dieser Teil seines Lebens nicht einem Bebauungsgebiet zum Opfer fällt, seine Jugenderinnerungen, das Lachen seiner Mutter und ihr Gesang, wenn sie am Fuß des Baumes sitzend seinem Vater bei der Gartenarbeit zusah und er ihr kopfüber von einem Ast hängend mit geschlossenen Augen lauschte. Wie gerne hätte er jetzt noch ihre Hand an seinen Ohren gespürt.


*) Text aus dem Gedicht „Im Garten" aus dem Band „Wortbruch" - Poesie von DUGUS (Dirk Becker), Roger Saint-Roche (Manfred Kolb) und Tasso J. Martens, elbaol verlag hamburg, ISBN 3-939771-00-7

 

Erschienen 2007 in der Anthologie:

 

Die Farbe der Kindheit
ferber-verlag köln
ISBN-13: 978-3-931918-66-8
ISBN-10: 3-931918-66-1

www.ferber-verlag.de

 

Hiervon existiert auch eine Übersetzung ins Polnische